Tilt & Shift-Objektiv fokussieren
(Canon TS-E 24mm f/3.5L II)

Autor: Dr. Dr. Rolf Klett

Tilt & Shift Objektive werden vorwiegend in der Architektur-, Landschafts- und Table-Top-Fotgrafie eingesetzt, um stürzende Linien zu minimieren oder den Schärfebereich exakt festzulegen. Diese Spezialobjektive erlauben entsprechend der Scheimpflug-Regel die separate Einstellung von Neigung und Verschwenkung des Objektivs (Tilt-und-Shift), so dass Perspektive (stürzende Linien) und Schärfentiefe unabhängig voneinander reguliert werden können.

In der Landschaftsfotografie setzt man anstelle normaler Weitwinkelobjektive häufiger solche Tilt & Shift Objektive ein. Einerseits versucht man damit, schnell fluchtende Perspektiven im Weitwinkelbereich zu vermeiden, weil sie entfernte Bereiche (z.B. Gebirge) zu klein erscheinen lässt. Andererseits will man oft gleichzeitig den gesamten Bereich von sehr nah liegenden Objekten bis hin zum fernen Horizont scharf abbilden, ohne das Objektiv zu stark abzublenden. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die nahen Objekte mit stark nach unten geneigter Kamera, also mehr von oben herab abgebildet werden sollen.

Die separate Einstellung der Neigung und Verschwenkung bei gleichzeitiger manueller Scharfstellung erfordert im allgemeinen sehr viel Erfahrung und ist selbst bei versierten Fotografen mit größerem Zeitaufwand verbunden. Erschwert wird dies noch, weil Tilt & Shift Objektive nur manuell fokussiert werden können und sich alle Verstellungen gegenseitig beeinflussen können. Schwierigkeiten bereitet besonders die Auffindung des richtigen Tilt-Winkels. Er muss abhängig von der Aufnahmesituation sehr feinfühlig eingestellt werden. Kleine Änderungen dieses Winkels bedingen meist sofort den Verlust der Fokussierung auf die Schärfeebene. Zudem ist man meistens versucht, diesen Tilt-Winkel zu groß zu wählen.

Von David Summerhayes wird beschrieben, wie die Fokussierung an Hand einer Tabelle erleichtert werden kann. Diese Gedanken habe ich aufgegriffen, mathematisch aufbereitet und im Studio am Beispiel des Tilt & Shift Objektivs Canon TS-E 24mm f/3.5L II experimentell überprüft. Das Objektiv hat 24 mm Brennweite, einen Neigungswinkel (Tilt) von ±8,5°, einen Schwenkbereich (Shift) von ±12 mm und einen Rotationswinkel von ±90° für Neigung und Verschwenkung.

Mathematische Grundlagen

Die folgende Skizze aus dem Standardwerk von Harold M. Merklinger, Focusing the View Camera, verdeutlicht die optischen Zusammenhänge.

Der Tilt-Winkel (a) ist abhängig von der Brennweite (f) des Objektivs, der Orientierung der Gegenstandsebene im Schärfebereich (Fokussierebene) und dem Abstand (J) des Objektivs zur Fokussierebene. Diese Fokussierebene kann horizontal liegen (z.B. Wasserfläche) oder eine ansteigende oder abfallende Ebene sein, auf der sich in verschiedenen Entfernungen die Objekte befinden (z.B. ausgedehnte Blumenwiese), die scharf abgebildet werden sollen.

Der Abstand (J) wird von der Objektivmitte bis zur Fokussierebene (parallel zur Film- bzw. Sensorebene verlaufend) gemessen. Es gilt die Beziehung

Tilt-Winkel = arcsin (f/J) * 180° / pi.

Daraus berechnet sich folgende Tabelle für den Tilt-Winkel in Abhängigkeit vom Abstand:

Praktische Anwendung

Zunächst Blende voll öffnen. Nachdem die Kameraposition gewählt und die Standhöhe festgelegt ist (Stativ), visiert man das Motiv an und misst den Abstand des Objektivs zur Fokussierebene (Motivebene) parallel zur Sensorebene. In der Landschaftsfotografie kann man bei ebenem oder leicht geneigten Gelände vereinfacht die Höhe des Objektivs über dem Boden verwenden. Dann stellt man den zugehörigen Tilt-Winkel nach der Tabelle am Objektiv ein. Jetzt Kamera neu auf Motiv ausrichten und auf die Bildmitte scharf stellen. Perspektive (fluchtende Linien) bei Bedarf durch Veränderung der Shift-Einstellung korrigieren und Bildausschnitt durch Neigung der Kamera motivgerecht ausrichten. Die Kameraposition und der Tilt-Winkel bleiben dabei unverändert.

Das Shiften hat keinen merklichen Einfluss auf die Bildschärfe. Wird die Kamera anders geneigt, dann bleibt diese im Rahmen der Motivanpassung so gering, dass in der Regel keine Änderung des Tilt-Winkels nötig ist. Da sich aber der Abstand zum Objekt ändert, muss man durch Drehung des Fokussierrings neu auf die Bildmitte scharf stellen. Bild In 10-facher Vergrößerung im Lifeview Modus abtasten und Schärfeergebnis kontrollieren. Eventuell verbleibende geringe Randunschärfen verschwinden bereits durch moderates Abblenden. Sollten dennoch Nachkorrekturen durch Verstellen des Tilt-Winkels (wegen ungenauer Abstandsmessung) erforderlich sein, so sollten diese sehr feinfühliges Nachführen durchgeführt und anschließend nachfokussiert werden. Erst jetzt auf den gewünschten Wert abblenden.

Soweit die Theorie. In der Praxis muss man jedoch berücksichtigen, dass die Einstellung des Tilt-Winkels auf der Skala am Objektiv nicht besonders feinfühlig möglich ist und Restfehler im Schärfebereich möglich sind. Aber man erhält durch Nutzung der Tabelle dennoch auf Anhieb gute Ergebnisse, die nur noch geringe Nachkorrekturen erfordern bzw. durch Abblenden beseitigt oder minimiert werden können.

Zu beachten ist auch, dass die beschriebene Methode der Fokussierung umso fehleranfälliger wird, je kleiner der Abstand zur Fokussierebene ist, weil sich dann Abweichungen bei der Abstandsmessung prozentual immer stärker auf den Tilt-Winkel auswirken (siehe Tabelle).

Anwendungsbeispiel

Die Kamera ist am Stativ befestigt und das Objektiv (Tilt-Einstellschraube) befindet sich 70 cm über einer Blumenwiese (parallel zur Sensorebene gemessen). Die Tabelle ergibt bei 688 mm (= ca. 70 cm) einen Tilt-Winkel von 2°. Diesen mit Neigung nach unten einstellen, Motiv anvisieren und auf die Bildmitte scharf stellen. Jetzt kann man perspektivische Korrekturen durch Shiften durchführen, ohne dass vorerst nachfokussiert werden muss. Wenn es dann notwendig wird, die Neigung der Kamera (Tilt-Winkel bleibt dabei konstant) für einen motivgerechten Bildausschnitt zu ändern, muss noch die Schärfe durch Drehung des Fokussierrings nachkorrigiert werden, weil sich der Motivabstand geändert hat. Eventuell verbleibende Randunschärfen wegen ungenauer Abstandsmessung sollten durch moderates Abblenden verschwinden. Jetzt auf gewünschten Werte abblenden.

Wichtig: Zur Bestimmung der Belichtungsparameter Tilt und Shift in Nullstellung bringen, sonst erfolgt Fehlmessung!

Experimentelle Überprüfung

Wie weit sich die Tabelle in der Praxis bewährt, zeigt folgender Testaufbau im Studio. Auf einem horizontalen Tisch liegt ein Tischtuch mit einem Karomuster von 4×4 cm zur Beurteilung der Perspektive. Darauf liegt zusätzlich ein Maßband, das einen Bereich von 0 bis 190 cm anzeigt. Der Tisch repräsentiert die Fokussierebene.

Eine Canon EOS 5D Mark II in Hochformatstellung ist auf einem Gitzo-Stativ mit Novoflex Kugelkopf befestigt und dem Tisch so weit angenähert, so dass das Objektiv senkrecht über dem Anfang des Maßbandes liegt. Der senkrechte Abstand des Objektivs zum Tisch (Fokussierebene) wird mit einem Maßstab gemessen. Da die exakte Geometrie des Objektivs nicht bekannt ist, wird der Abstand bis zum Stellrad für den Tilt-Winkel gemessen. Die Kamera ist auf einen Abstand von 55 cm angehoben und fixiert.

Belichtet wird mit Studioblitz durch Funkauslösung. Die Empfindlichkeit ist auf ISO 100 eingestellt und das Objektiv voll aufgeblendet (f/3,5). Die Schärfekontrolle erfolgt sowohl über den Bildschirm eines 15“ MacBook Pro bzw. durch 10-fache Vergrößerung im Lifeview Modus. Nach jeder neuen Einstellung der Tilt- oder Shift-Werte oder Kameradrehung wird dieFokussierung wieder neu in der die Bildmitte überprüft und notfalls neu fokussiert.

Versuchsanordnung

Ergebnisse

Test 1:

Zunächst wurden am voll aufgeblendeten Objektiv Tilt und Shift auf Normalwerte (Null) gestellt und die Kamera so geneigt, dass die Bildmitte auf 50 cm des Maßbandes zeigt. Das Ergebnis  zeigt erwartungsgemäß volle Schärfe bei 50 cm, jedoch schnell nachlassende Schärfe im nahen und fernem Bereich (Bild 1).

Test 2:

Jetzt wurde das  Objektiv, das sich 55 cm über der Fokussierebene (Tisch) befindet, entsprechend der Tabelle (siehe Anmerkung) mit einem Tilt-Winkel von 2,5° nach unten geneigt (Bild 2). Es zeigt sich nun bereits eine sehr gute Schärfeüber den vollen Bereich des Maßbandes. Ich weise darf darauf hin, dass keine weitere Feinjustierung des Tilt-Winkels vorgenommen wurde,  um die Schärfe in den Randbereichen eventuell noch weiter zu verbessern.

Anmerkung: Es wurde hier als Abstand fälschlicherweise 55 cm angesetzt. Da die Kamera unter ca. 45° geneigt war,  hätte ein Abstand zur  Tischebene (gemessen parallel zur  Sensorebene) von ca, 78 cm und ein Tilt-Winkel von etwa 2 °, also ein halbes Grad weniger zu Grunde gelegt werden müssen. Bemerkenswert ist, dass sich das, wie Bild 2 belegt, kaum auf den Schärfebereich ausgewirkt hat. Die nachfolgenden Tests bleiben davon ohnehin unberührt.

Test 3:

Nun wurde geprüft, ob sich durch das Shiften des Objektivs Veränderungen der Schärfe ergeben. Bei maximal möglicher Verschiebung von 12,5 mm nach oben und unten bleibt die Schärfe voll erhalten (Bild 3 und 4). Eine Nachfokussierung war nach dem Shiften nicht notwendig.

Test 4:

Die Shift wurde jetzt auf Null zurückgestellt und das Kameragehäuse um den Kugelkopf des Stativs nach unten gekippt, so dass das Bildfeld bis senkrecht unter das Objektiv reichte. Die Schärfe blieb auch hier über den gesamten Bildbereich weitgehend erhalten (Bild 5). Die geringen Schärfeverluste im Randbereich erklären sich dadurch, dass die Drehung um den Kugelkopf des Stativs erfolgte, was eine Veränderung des vertikalen Abstandes zur Fokussierebene zur Folge hatte.

Test 5:

Das Kameragehäuse wurde nun um den Kugelkopf des Stativs nach oben gekippt, bis die Bildmitte das Ende des Maßbandes erfasste (Bild 6). Auch hier blieb die Schärfe über den vollen Bereich erhalten. Bei einer solchen Ausrichtung der Kamera würde in jedem Falle auch der weite Horizont einer Landschaftsaufnahme etwa bildmittig erscheinen, so dass auch noch höhere Berge erfasst werden könnten.

Schlussfolgerungen

Die Tabelle ist sehr hilfreich bei der Einstellung des Tilt-Winkels und reduziert den zeitlichen  Aufwand für die exakte Fokussierung erheblich (Test 2). Es genügt auf die Bildmitte zu fokussieren. Vorausgesetzt, dass der Tilt-Winkel korrekt fixiert ist und sich auch der Kameraabstand zur Fokussierebene nicht mehr ändert, bleibt das Shiften des Objektivs ohne Einfluss auf die Schärfe (Test 3). Auch die Neigung des Kameragehäuses spielt dann innerhalb der angegebenen Grenzen keine Rolle (Test 4 und 5).

Das Verfahren stößt bei sehr kleinen Abständen der Kamera zur Fokussierebene (unter ca. 30 cm) bald an seine Grenzen, weil sich Fehlmessungen in den kurzen Abstandsbereichen sehr viel stärker auf den Tilt-Winkel und die Fokussierung auswirken. In der Landschaftsfotografie sind solch kleine Abstände aber eher die Ausnahme. Dann kann man auf die sonst übliche Fokussierung durch iterative Veränderung der Einstellwerte zurückgreifen.